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Clean, Shaven

Clean, Shaven

EXPERIMENTELLES DRAMA: USA, 1993
Regie: Lodge H. Kerrigan
Darsteller: Robert Albert, Peter Greene, Jennifer MacDonald, Megan Owen

STORY:

Peter Winter (Peter Greene) ist in seinem Auto unterwegs, in dem er anscheinend auch überwiegend lebt. Die Fenster hat er zum Teil eingeschlagen und die Scheiben durch Zeitungspapier ersetzt. Auch die Rückspiegel hat er damit verklebt, damit er sein Gesicht nicht ansehen muss. Das Autoradio läuft, doch es gelingt ihm nicht einen festen Sender einzustellen. So hört er nur ein Stimmenkrächtzen und ätherisches Rauschen und Gesurre. Und dann sind da natürlich noch die anklagenden Stimmen in seinem Kopf ... Dabei ist Peters Wahrnehmung alles andere, als unscharf: Mit einer schmerzhaften Überdeutlichkeit nimmt er jedes noch so winziges Detail seiner Umwelt wahr.

Kein Wunder, dass ihm von all diesen verwirrenden Eindrücken der Kopf dröhnt und ihm dies häufiger alles zu viel werden droht. So sucht er nach Ordnung, indem er sich z.B. bis zur Selbstverstümmelung wäscht und rasiert. Denn sauber und rasiert erträgt er sich noch am ehesten. Und dann hat er ja auch noch eine Mission, die ihn antreibt. Peter befindet sich auf der Suche nach seiner autistischen Tochter, die ihm aus unerfindlichen Gründen weggenommen wurde. - Auch ein Detective befindet sich auf der Suche. Ebenso wie Peter ist auch er ein Getriebener. Seine Suche gilt jedoch einem gemeinen Mörder kleiner Mädchen, der sich in dieser Gegend umher treibt ...

KRITIK:

Der amerikanische Independentfilm CLEAN, SHAVEN ist das Debüt von Lodge Kerrigan. Der Film stammt aus dem Jahre 1993, also einer Zeit, als sich so etwas wie eine amerikanische Independentfilm-Szene gerade erst zu formieren begann. CLEAN, SHAVEN ist von einer überraschenden Modernität, die so ziemlich alles Vergleichbare aus seiner Zeit weit überstrahlt. Wobei: So wirklich Vergleichbares gibt es da eigentlich nicht!

Auch bis heute ist mir als einzig Wesensverwandter Hans Weingartners DAS WEISSE RAUSCHEN (2001) bekannt. Auch dies ein Film, der zur Zeit seiner Entstehung als eindringliches Portrait einer (beginnenden) Schizophrenie einiges Aufsehen erregt hat. Und obwohl der eine Dekade später entstandene DAS WEISSE RAUSCHEN sogar von einem studierten Neurowissenschaftler stammt, kann dieses deutsche Pendant zu CLEAN, SHAVEN in Sachen Eindringlichkeit nicht wirklich mit dem acht Jahre älteren Film von Lodge Kerrigan mithalten.

CLEAN, SHAVEN geht in seiner beängstigend authentischen Darstellung eines Paranoid-Schizophrenen so weit, wie dies mit filmischen Mitteln überhaupt nur möglich ist. Wir erleben fast die gesamte Handlung ausschließlich aus der subjektiven Sicht des von Peter Greene (PULP FICTION ...!!!) auf absolut beeindruckende Weise verkörperten Peter Winter: Wir betrachten die Welt mit Peters Augen. Wir erleben, wie die auf ihn einprasselnden Sinneseindrücke ihn verunsichern und quälen. Wir erleben auch Peters akustische Halluzinationen. Und ebenso wie Peter, sind wir nie ganz darüber im Klaren, was hier nun gerade nur im Kopf abläuft und was tatsächlich in der als überwiegend bedrohlich empfundenen Außenwelt geschieht.

Wir wissen auch nicht, was der Auslöser für Peters Geisteskrankheit war. Wir wissen ebenso wenig, warum und auf welche Art Peters Frau gestorben ist. Wir wissen nur, dass die kleine autistische Nicole (Jennifer MacDonald) aus dieser Ehe stammt. Und wir wissen, dass Nicole von Peters Mutter zur Adoption freigegeben wurde und dass Peter kein Besuchsrecht bei seiner Tochter hat. - Peters Mutter möchte der Enkeltochter ein ähnliches Schicksal wie das ihres Sohnes ersparen. Denn Peter war nicht immer geisteskrank. Früher war er sogar ein sehr glückliches und dazu auch noch ein hochbegabtes Kind, dem die Welt weit offenstand.

Umso tragischer wirkt da Peters geistiger Verfall und der totale Zusammenbruch von Peters Leben. Offensichtlich weiß Peter auch sehr genau, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Nur das Warum, das will sich ihm nicht erschließen. Ebenso wenig begreift Peter, warum er von seiner geliebten Tochter getrennt leben muss. Doch trotz all seiner Verwirrung und Wahrnehmungsstörungen ist er noch immer irgendwo ein sehr intelligenter Mann und beginnt deshalb auch recht erfolgreich auf eigene Faust zu recherchieren...

Es ist diese absolute Mehrdeutigkeit, welche CLEAN, SHAVEN zu einem ebenso unangenehmen und frustrierenden, aber zugleich auch faszinierenden und lohnenswerten Seherlebnis macht: Dieser Peter ist nicht einfach ein armer, durchgeknallter Irrer, sondern eine ernstzunehmende gequälte Person, mit der wir einfach mitempfinden und auch mitleiden müssen. Doch nicht nur Peter, sondern auch der Zuschauer ist unendlich frustriert, weil hier bis zum Schluss nie ganz klar wird, was eigentlich tatsächlich geschieht. Es gibt jedoch sowohl im Film, als auch hier draußen (www.mitternachtskino.de) Menschen, für welche die Dinge ein wenig zu eindeutig erscheinen. Und zumindest in CLEAN, SHAVEN entpuppen diese sich am Ende als die größte Bedrohung für die Allgemeinheit...

Clean, Shaven Bild 1
Clean, Shaven Bild 2
Clean, Shaven Bild 3
Clean, Shaven Bild 4
Clean, Shaven Bild 5
Clean, Shaven Bild 6
Clean, Shaven Bild 7
FAZIT:

CLEAN, SHAVEN ist das genaue Gegenteil eines gelungenen Unterhaltungsfilms und gerade deshalb ein Film, an dem kein wahrer Cineast vorbeikommt: CLEAN, SHAVEN ist ein äußerst sperriger Trip in den Kopf von Peter Winter, seines Zeichens ein hochbegabter paranoid-schizophrener Wahnsinniger. CLEAN, SHAVEN beschert dem Zuschauer ein ausgesprochen unangenehmes und frustrierendes Seherlebnis. Unangenehm ist es, mit Peter eine weitestgehend unverständliche, einen in ihren vielfältigsten Sinneseindrücken eindeutig überfordernde Welt zu erleben. Frustrierend ist es, wie die Umwelt auf Peter reagiert und wie sie ihm seine geliebte Tochter vorenthält. Frustrierend ist es auch, dass hier auf der reinen Handlungsebene bis zum Schluss mehr Fragen offenbleiben, als beantwortet werden.

Zugleich ist CLEAN, SHAVEN jedoch ein unbedingt lohnenswerter Film, der es dem Zuschauer ermöglicht einen intensiven Einblick in ein geistiges Leiden zu erlangen, welches sich einem durch rein sachliche Beschreibungen unmöglich erschließen kann. Darüber hinaus ist dieser Film auch ein mutiges Plädoyer für eine wahre menschliche Vielfalt, deren Wert sich nicht an dem Grad der Erfüllung jedweder Normen bemisst. Denn schlussendlich zeigt CLEAN, SHAVEN auch, dass die wichtigste Frage nicht darin liegt, inwieweit man sich z.B. geistiger Gesundheit im landläufigen Sinne erfreut, sondern darin, inwiefern man (trotz allem) wirklich menschlich handelt. - CLEAN, SHAVEN ist soeben beim deutschen Edel-Label Bildstörung in gewohnt herausragender Aufmachung erschienen. Diese Veröffentlichung kann uneingeschränkt als ein Pflichtkauf für alle Freunde bewusstseinserweiternder Filme bezeichnet werden!

WERTUNG: 10 von 10 beängstigende Stimmen im Radio (oder im eigenen Kopf?)
TEXT © Gregor Torinus
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Zetz | 03.06.2011 13:54
Schönes Review. Wurde auch Zeit, dass der Film 'ne vernünftige Veröffentlichung im deutschen Raum bekommt.
>> antworten
WTF!? | 01.06.2011 17:28
WTF!?
Harald | 01.06.2011 19:24
interessant, immer diese "hochwertigen" Kommentare bei den 'Bildstörung'-Titeln. Scheint offenbar irgendetwas auszulösen bei bestimmten Personen. Oder reicht die Einzahl?
Gregor | 01.06.2011 22:05
Die sind doch klasse, oder?!! ;-)
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