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Frühling in einer kleinen Stadt

Frühling in einer kleinen Stadt

DRAMA: CHINA, 1948
Regie: Fei Mu
Darsteller: Wei Wei, Zhang Hongmei, Li Wei

STORY:

China 1946. Vor acht Jahren hat Zhou Yuwen Dai Liyan geheiratet. Zwei von diesen acht Jahren haben sich die Eheleute nicht gesehen. Liyan, der Mann, war anscheinend von den Schrecken des zweiten Chinesisch-Japanischen Krieges geflohen. Die folgenden sechs Jahre glaubt Liyan an Tuberklose zu leiden. Die kinderlosen Eheleute leben gemeinsam mit Liyans jüngerer Schwester Xiu und dem treuen Diener Lao Huang im zerstörten Anwesen der Familie Dai. Da kommt unerwartet Liyans Kinderfreund Zhang Zhichen zu Besuch, den Liyan seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hat. Aber nicht nur Liyan und Zhichen verbindet eine gemeinsame Vergangenheit.

KRITIK:

Fei Mus "Frühling in einer kleinen Stadt" beruht auf einer Kurzgeschichte und ist auf den ersten Blick eine simple Liebesgeschichte. Entstehungszeit und Ort sowie ausgeprägter Symbolismus machen daraus aber viel mehr. So geht es unter anderen um Grenzen.

Yuwen geht in der ersten Szene nach dem Einkaufen auf der Stadtmauer spazieren. Wenn sie dort geht, scheint es, also ob sie dieser Welt entschweben würde. Ihre Augen sehen nichts. Ihr Geist ist leer. Nur der Einkaufskorb am Arm und die Medikamente für ihren Mann in der Hand würden sie an ihr langweiliges, diesseitiges Leben binden. Sie sagt, sie hat nicht den Mut zu sterben, ihr Mann nicht den Mut zu leben. Der ist (eingebildet?) krank, depressiv und versucht ohne Mörtel, Wissen und Lust per Hand die langsam überwachsenden Mauern des zerbombten Hauses seiner Familie Ziegel um Ziegel wiederaufzubauen.

Sie verzweifelt daran, die Stadtmauerruinen nicht hinter sich lassen zu können. Er daran, die Mauern des Familienanwesens, dessen glorreiche Geschichte für seine Familie nicht wiederaufbauen zu können. Beide Verzweiflungen erwachsen aus Ehrgefühl.

Diener Huang und die Schwester Xiu sehen die Welt positiver. Huang bringt Liyan das Essen, Nachrichten und Ratschläge. Außerdem entsorgt er schlecht gewordene Kräutermedizin durch die Hintertür, außerhalb der Mauern des Anwesens. Xiu lebt laut Yuwen in ihrer eigenen kleinen Welt. Ihr Blick ist, im Gegensatz zu dem ihres Bruders, in die Zukunft gerichtet. Sie ist voller Stolz als sie Liyan ihr Bonsai-Stillleben zeigt. Es ist eine Szene aus Baum und Stein und womöglich eine utopische Idee wie der Wiederaufbau des Anwesens mit Hilfe und nicht gegen die Natur möglich wäre. Liyan ist wenig daran interessiert. Trotz ihres Optimismus merken diese beiden Vermittlerfiguren, wie das Leben an Liyan und Yuwen zehrt.

In der gleichermaßen hoffnungslosen wie -vollen Welt dieses schmalen Figurenensembles ist der unerwartete Besuch Zhichens ein Lichtblick. Dieser ist den im Krieg ständig wechselnden chinesischen Hauptstädten gefolgt und hat Medizin studiert. Das Anwesen will er durch die Hintertür betreten. Niemand öffnet. Da er sich aber auskennt, betritt er es schließlich durch eine zerstörte Gartenmauer. Xiu ist von dem jungen Arzt angetan. Huang hofft, dass der Besucher seinen Herren auf andere Gedanken bringt. Der erfüllt diesen Wunsch und will durch Zhichen an seine glücklichere Vergangenheit anschließen. Was er nicht weiß, ist, dass seine Frau dasselbe Ziel hat. Bevor sie Liyan kennengelernt hat, hatte Yuwen eine Affäre mit Zhichen.

Es wird deutlich wie der Film mit Grenzsymbolen spielt. Das tut er vor allem anfangs, wenn die Charaktere von Yuwens (subjektiv gefärbten und damit verzerrenden?) Voice-Over eingeführt werden. Im Mittelteil steht das Beziehungsdrama im Vordergrund, das sich bald von drei auf vier Personen ausweitet. Aber auch hier geht es immer um Grenzen. Und zwar werden die zuvor eingeführten Grenzen ausgelotet. Wie kann man sie übertreten? Dann später, nagend: Welche Konsequenzen würden daraus erwachsen, übertritt man sie tatsächlich?

Kurz vor dem Ende, nach dem Höhepunkt im Beziehungsdrama, versammeln sich die vier übrigen Figuren im Schlafzimmer Liyans vor dessen Bett. Es ist etwas geschehen. Der Diener bietet den Bangenden ein heißes Tuch zum Reinigen der Hände an. Alle bis auf den Arzt lehnen das Angebot ab. Eine Einstellung später werden die Grenzen noch deutlicher gezogen. Der Gast steht links, die anderen, zuerst die Frau, dann die Schwester, dann der Diener, rechts vom Bett des Hausherren. Am Ende steht das Ehepaar gemeinsam auf der Stadtmauer und winkt Zhichen zum Abschied. Er wird von Huang und Xiu zum Bahnhof begleitet. Die Grenzen leben in Gedanken weiter, man hat sich entschieden sie nicht zu übertreten, aber auch sie nicht zu vergessen.

Frühling in einer kleinen Stadt ist natürlich nicht nur ein Film über Grenzen, aber in diesen an Symbolen reichen Film waren es für mich die Grenzsymbole, die am deutlichsten hervorstachen. Welchem Empfänger spenden die Grenzbilder metaphorische Bedeutung? Der Politik oder doch der Ehe? Vermutlich beiden.

Die Wiki weiß jedoch, dass zumindest in der chinesischen Rezeption des Films die (Kultur-)Politik eine wichtige Rolle gespielt hat. Schon bei seinem Erscheinen unterschied er sich von anderen chinesischen Produktionen, nach der Kulturrevolution stieß er vollends auf Ablehnung und verschwand bis in die frühen 1980er in der Versenkung. Der Film war zu unpolitisch, zu rechts, zu konservativ für die kommunistische Regierung. Das alles ist er nicht. Vielmehr ist er sich seines Entstehungsorts und seiner Entstehungszeit bewusst und wehrt sich gegen den sozialistischen Realismus.

Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird zwar widergespiegelt (Handlungszeit im Jahr des Kriegsendes; davon herrührende Zerstörungen; usw.), aber nicht (allzu) utopisch verklärt. Einzig die traditionelle chinesische Medizin zieht gegen die Schulmedizin den Kürzeren. Zhichen und auch Xiu könnten zwar als vorwärtsstrebende sozialistische Helden durchgehen, es gibt aber keine Schwarzweißzeichnung der Figuren. Der lebensmüde Mann hat wie die übrigen Figuren Fehler und Vorzüge. Und alle kennen ihre Grenzen.

Frühling in einer kleinen Stadt Bild 1
Frühling in einer kleinen Stadt Bild 2
Frühling in einer kleinen Stadt Bild 3
Frühling in einer kleinen Stadt Bild 4
Frühling in einer kleinen Stadt Bild 5
FAZIT:

"Frühling in einer kleinen Stadt" ist ein faszinierender Film, der es schafft, vergleichbar etwa mit Helmut Käutners "Unter den Brücken" oder Marcel Carnés "Kinder des Olymp", durch eine symbolbehaftete Liebesgeschichte seinem grausamen und kulturfeindlichen Entstehungsort zu entfliehen. Wie in seinen deutschen und französischen Verwandten agieren in Frühling in einer kleinen Stadt hervorragende Schauspieler und die Kamera fängt alles in schnörkellosen Bildern ein. Der Film ist in den USA offenbar in der public domain und kann kostenlos auf http://www.archive.org/details/spring_in_a_small_town gestreamt oder heruntergeladen werden.

WERTUNG: 9/10
Gastreview von Florian Dietmaier
Dein Kommentar >>
Andreas | 12.10.2011 20:19
0 von 10? so klang es gar nicht?
Harald | 12.10.2011 23:07
oops, hat sich unsere Rating-Agentur mal wieder geirrt ;-)
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