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GOOD MOVIES FOR BAD PEOPLE
Jagdszenen aus Niederbayern

Jagdszenen aus Niederbayern

DRAMA: D, 1969
Regie: Peter Fleischmann
Darsteller: Martin Sperr, Angela Winkler, Hanna Schygulla

STORY:

Der junge Mechaniker Abram bringt Unruhe in die vermeintliche Idylle eines kleinen Bauerndorfs in Niederbayern. Man lacht und lästert über den angeblichen "warmen Bruder", der das bösartige Mobbing zu ignorieren versucht, so gut es geht. Die Einzige, die zu ihm hält, ist die "Dorfhure" Hannelore, die ein Kind von ihm erwartet. Doch für Außenseiter ist kein Platz in der "anständigen" Dorfgemeinschaft, die für die Bewahrung von Sitte und Anstand zu allem bereit ist ...

KRITIK:

Ein Film mit Schauplatz Bayern beginnt selbstredend in einer Kirche, wo zerfurchte Bauerngesichter wie in Trance ausdruckslos vor sich hinstarren und andächtig den Worten des Dorfpfarrers lauschen. Doch die Worthülsen von Mitgefühl und Nächstenliebe bleiben unverstanden - und das nicht nur, weil sie auf Latein vorgetragen werden. Schon wenige Einstellungen später wird klar, dass dieser bigotten Dorfgemeinschaft jede Empathie, jegliches Mitgefühl, eigentlich: jede menschliche Regung abhanden gekommen ist.

Wenn man so will, kann man Peter Fleischmanns JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN als Vorläufer zu Michael Hanekes DAS WEISSE BAND betrachten. Beide Filme erzählen in expressionistischen Schwarz/Weißbildern von der Verrohung einer dörflichen Gemeinschaft. Doch damit erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten auch schon wieder.

Während der kühle Moralphilosoph Haneke eine zwar hochspannende, aber letztlich auch sehr konstruierte und kopflastige filmische Versuchsanordnung konstruiert, besinnt sich Fleischmann auf seine Stärken als Dokumentarfilmer: JAGDSZENEN ist in seiner ersten Hälfte ein präzise beobachtetes und von verdammt gut aufspielenden Laiendarstellern zum Leben erwecktes Bild dörflichen Lebens zwischen Kirche, Gasthaus, Feld, Stall und Schlachthof. Vor allem letztere - die grauslichen Bilder aus dem Schlachthof - sind definitiv nichts für Vegetarier: Den heutzutage obligatorischen "No Animals were harmed"-Hinweis wird man im Abspann dieses Films aus dem Jahre 1969 vergeblich suchen.

Es wird zwar viel gelacht und gescherzt im niederbayrischen 300-Seelen-Kuhdorf mit dem schönen Namen Unholzing. Doch der Witz ist zutiefst bösartig, verletzend und läuft stets auf irgendjemandes Kosten. Auf Kosten der "Hure" Hannelore zum Beispiel. Oder des "warmen Bruders" Abram, der, wie man hinter vorgehaltener Hand erschrocken tuschelt, im Gefängnis gesessen ist, weil's die "Drecksau" - huch - mit Männern getrieben hat. Tatsächlich war "homosexuelle Unzucht" in der Bundesrepublik bis 1968 ein Strafdelikt.

"Ich hab ihn halb tot geschlagen, ich schwör's. Ich kann nichts dafür, dass eine Drecksau aus ihm geworden ist". So spricht Abrams Mutter, die ihren Sohn schließlich aus Scham verstoßen wird, weil: "Wir müssen unsere Kinder schützen vor der Sau". Und, natürlich, der Klassiker: "Früher hätt's so was nit geben!". Aber Gott sei Dank liegt die Lösung des Problems auf der Hand: "Dos Zipfel g'hört ihm abgschnittn!"

Nein, man muss kein ausgewiesener Experte für Backwood-Horrorfilme sein, um zu wissen, dass eingeschworeren Dorfgemeinschaften nichtigste Anlässe genügen, um zum Lynchmob zu werden.

Das wirklich Interessante und Überraschende an Peter Fleischmanns Film ist aber, dass derartige Erwartungshaltungen eben nicht erfüllt werden. Ohne hier Entscheidendes spoilern zu wollen, hat mich auch die moralische Ambivalenz der Figur des Abram ziemlich verstört. Er ist nämlich nicht nur das schuldlose Opfer. Er setzt auch Handlungen, die ihn als Sympathieträger eindeutig disqualifizieren. Und die die Verdächtigungen des dörflichen Mobs zumindest in Ansätzen bestätigen. Aber seht selbst ... 

Veröffentlicht wurde dieser seinerzeit massiv angefeindete Klassiker des Neuen Deutschen Films in der wiederauferstandenen KinoKontrovers-Edition. DVD und Blu-Ray, ein üppiges Booklet und hochinteressante Extras – unter anderem die unpackbare Leserbrief-Debatte in einer bayrischen Regionalzeitung aus dem Jahr 1969 – runden diesen Pflichtkauf für Hirnbesitzer ab.

 

Jagdszenen aus Niederbayern Bild 1
Jagdszenen aus Niederbayern Bild 2
Jagdszenen aus Niederbayern Bild 3
Jagdszenen aus Niederbayern Bild 4
Jagdszenen aus Niederbayern Bild 5
FAZIT:

Der "warme Bruder" Abram kehrt zurück in sein Heimatdorf und muss am eigenen Leib erleben, dass für Andersartige kein Platz ist in der "anständigen" Dorfgemeinschaft. Ein beklemmender Klassiker des Neuen Deutschen Kinos, der seinerzeit für erbitterte Debatten sorgte. Der Film ist in der renommierten KinoKontrovers-Reihe auf DVD erschienen. Das zugrunde liegende Theaterstück ist derzeit im Wiener Volkstheater zu sehen. So, Bildungsauftrag erfüllt :)

WERTUNG: 8/10
Dein Kommentar >>
der Orloff | 02.05.2012 21:46
Der Irre vom Zombiehof Teil 2!!!
Harald | 02.05.2012 21:52
ich würde viel dafür geben, den sagenumwobenen ersten Teil sehen
zu können.
>> antworten
Chris | 13.03.2012 18:08
Hört sich alles hochinteressant an. Und diese Dorfgemeinde wirkt
schon im Trailer beklemmender als eine Horde Zombies. In Bayern
ist der Backwood doch am finstersten...- PS: Dass der Film
tatsächlich aus dem Jahr 1969 überrascht mich. Kommt ziemlich
zeitgemäß rüber. Er wirkt irgendwie, als würde ein moderner Film
auf eine alte Schwarz/weiß-Optik setzen.
Harald | 13.03.2012 22:14
Er wirkt optisch tatsächlich sehr heutig.
Übrigens hab ich die DVD doppelt, gekauft und mit Wochen
Verspätung doch noch als unerwartetes Rezensionsexemplar im
Postkasten gefunden. Ich nehme an, du hast nichts dagegen, wenn
ich dir das gute Stück weiterschicke?
Chris | 13.03.2012 22:26
Was DER KILLER VON WIEN unter den Gialli ist, bist du unter den
Chefs! Freu mich schon auf den Film und tausend Dank! : )
>> antworten