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The Sailor who Fell from Grace with the Sea

The Sailor who Fell from Grace with the Sea

OT: The Sailor who Fell From Grace with the Sea
MORBIDES DRAMA: GB, 1976
Regie: Lewis John Carlino
Darsteller: Sarah Miles, Kris Kristofferson, Jonathan Khan, Earl Rhodes

STORY:

Die Witwe Anne Osborne lebt mit ihrem dreizehnjährigen Sohn Jonathan in der englischen Hafenstadt Dartmouth. Eines Tages verliebt sie sich in den amerikanischen Seemann Jim. Zunächst ist Jonathan tief beeindruckt von dem freundlichen und stattlichen Schiffsoffizier, doch als der sich anschickt, sesshaft zu werden und Jonathans Mutter zu heiraten, ändert sich das Verhältnis auf dramatische Weise. Zusammen mit dem "Chief", dem psychopathischen Anführer eines geheimen Bundes, deren Mitglieder allesamt Kinder und Heranwachsende sind, entwickelt der eifersüchtige Jonathan einen teuflischen Plan…

KRITIK:

Eine der nachdrücklichsten der vielen garstigen Szenen im berüchtigten Japan-Sicko ALL NIGHT LONG war jene, als die Jugendgang am Flussufer eine Katze lebendig verbrennt. Da war uns allen klar: Diese jungen Kerle sind verrückt wie Scheißhausratten und bösartig wie tollwütige Scheißhausratten.

Doch schon viel früher als im 1992 produzierten ALL NIGHT LONG - nämlich im Jahr 1976 - musste eine Katze ihr (filmisches) Leben lassen, um uns zu demonstrieren, dass mit manchen Kindern nicht zu spaßen ist. Kinder sind auch die unterschwellige Bedrohung in dem morbiden (Liebes-)Drama THE SAILOR WHO FELL FROM GRACE WITH THE SEA, das in der britischen, hier ausgesucht düster dargestellten Küstenstadt Dartmouth angesiedelt ist und welches in Deutschland unter dem alles andere als unpassenden Titel DER WEG ALLEN FLEISCHES vermarktet wurde.

Diese Halbwüchsigen sind organisiert in einem quasi-faschistoiden Kindergeheimbund, angeführt von dem dreizehnjährigen hochintelligenten Psychopathen "Chief", der seine ihm treu ergebenen Gefolgsleute nicht mit deren Namen, sondern lediglich mit Nummern anredet und keinen Zweifel über seinen alarmierenden Geisteszustand lässt, als er in einer verstörenden Sequenz die vorstehend erwähnte Katze auf dem Altar der eigenen aufkeimenden Psychopathie opfert.

Sie sind von erschreckender Gefühlsarmut; die Kinder des Bösen in THE SAILOR WHO FELL FROM GRACE WITH THE SEA und fast schon als Bindeglieder zwischen Artgenossen wie BÖSE SAAT (1956), THE INNOCENTS (1961), dem gleichaltrigen EIN KIND ZU TÖTEN, den KINDER DES ZORNS aus dem Jahr 1984 und vielleicht sogar dem eingangs genannten ALL NIGHT LONG zu sehen. Wobei das vorliegende Werk von Lewis John Carlino weit weniger Horrorfilm als viel mehr dunkles Drama ist. Durch Kinderhand sadistisch getötete Katzen sind dennoch nicht die einzigen Abseitigkeiten, die hier und da in dieses hochseriöse sowie mit Sarah Miles (BLOW-UP) und Kris Kristofferson auch erstklassig besetzte Stück Cineastenkino sickern und dieses letztendlich mit einer Atmosphäre des Unbehagens durchsetzen, die allgegenwärtig ist, selbst wenn der Film sich ganz der Entwicklung der Liebesgeschichte zwischen Miles und Kristofferson widmet.

Denn da ist ja dieser Junge Jonathan (oder "Number Three"), der die Wäsche seiner verwitweten Mutter mit einem etwas zu merkwürdigen Gesichtsausdruck heimlich befühlt und deren Schlafzimmer des Nachts durch ein Loch in der Wand observiert; sie bei Sex und Selbstbefriedigung beobachtet. Ob dieser maßgebenden, voyeuristischen Komponente dieses britischen Films hätte ich zunächst schwören können, dass die japanische Romanvorlage von unserem alten Bekannten Edogawa Rampo - siehe THE HORRORS OF MALFORMED MEN oder THE WATCHER IN THE ATTIC - stammt.

Aber nein, sie ist von Yukio Mishima, einem der seriöseren, asiatischen Literatur zugeneigten Schriftsteller. Vielleicht ist deswegen Sarah Miles’ Masturbationsszene, die wir durch ein Loch in der Wand beobachten, eben nicht bloß eine Masturbationsszene, sondern eine überdeutliche Momentaufnahme des Seelenbildes ihrer Figur; wenn sie vor Spiegel und Foto des verstorbenen Mannes in einer Mischung aus Sehnsucht, Trauer, Erinnerung und Lust Hand an sich legt und stumm weint. Dass sie bei diesem höchst intimen Moment der sexuellen und seelischen Entblößung von ihrem Sohn beobachtet wird, versinnbildlicht auch den Geist dieses Filmes, der zu gleichen Teilen tragische Liebesgeschichte, morbides Drama und vor allem verspielfimte Beschreibung Freud´scher Theorien zu unbewusst libidinösen Mutterbindungen bei gleichzeitiger Rivalität zum Vater ist.

Die Hafenstadt Dartmouth entpuppt sich als idealer Schauplatz; bietet sie doch der Kamera von Douglas Slocombe (in späteren Jahren übrigens verantwortlich für die Cinematographien zu den ersten drei INDIANA JONES-Teilen und SAG NIEMALS NIE aus der James Bond-Reihe) Motive für romantische (am Strand, auf See) als auch ausgesprochen düstere, bedrückende Bilder. Darunter finden sich auch besonders stimmungsvolle Aufnahmen vom "Daymark", dem mystisch anmutenden Monument dieser Region.

Einige Zuschauer könnten allerdings so ihre Problemchen mit dem Tempo bekommen. Weil der Film zunächst gemächlich wie die stille See wogt. Wie die ruhigen Klavierstücke von John Mandel. Wie der sanfte, unaufgeregte Sex zwischen Jonathans Mutter und ihrem Seemann. Dennoch traut man der Idylle keinen Moment. Die See ist zu trügerisch ruhig. Und tatsächlich - kurz vor Schluss geht eine Veränderung vor. Mit Mandels Musik. Mit dem zu friedlichen Dartmouth. Die Dinge steuern auf Unausweichliches zu. Die See tut sich auf; wird zu einem schwarzen Sog; verschlingt einen. Selbst wer sich von den 105 Minuten THE SAILOR WHO FELL FROM GRACE WITH THE SEA hundert Minuten nur gelangweilt hat, wird diese extrem virtuos komponierte, grausig-brachiale Schlusssequenz kaum vergessen können. Es ist ein Ende vom Schlage eines WAS GESCHAH WIRKLICH MIT BABY JANE? oder WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN. Eines, das im Gegensatz zu Happy Ends, lange im Gedächtnis bleibt und eines, das aus diesem düsteren Drama ein bitterböses macht…
PS: Um Missverständnissen vorzubeugen: No living animals were mistreated in the making of this film!

The Sailor who Fell from Grace with the Sea Bild 1
The Sailor who Fell from Grace with the Sea Bild 2
The Sailor who Fell from Grace with the Sea Bild 3
The Sailor who Fell from Grace with the Sea Bild 4
The Sailor who Fell from Grace with the Sea Bild 5
FAZIT:

Ein düster-romantischer Küstenort, eine Witwe, ein Seemann und psychopathische Kinder sind die Fixpunkte in diesem wunderschön fotografierten, aber zutiefst morbiden Drama, welches lange Zeit so gemächlich wie ruhiger Wellengang dahinplätschert, jedoch einen Tsunami des subtilen Grauens mit seiner Schlusssequenz auslöst. Allein für diese eine nachdrücklich beklemmende Szene macht sich das Investieren von Zuschauergeduld, welche die eine oder andere Länge leider abfordert, letzten Endes doch mehr als bezahlt. Ein Schlussbild, das nicht nur für Gänsehaut, sondern auch dafür sorgt, dass man sich noch lange nach dem Abspann mit diesem Film beschäftigt.

WERTUNG: 8 von 10 Seemannsgeschichten
TEXT © Christian Ade
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