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Viridiana

Viridiana

DRAMA: Spanien, 1961
Regie: Luis Buñuel
Darsteller: Silvia Pinal, Francisco Rabal, Fernando Rey, José Calvo

STORY:

Die Novizin Viridiana (Silvia Pinal) steht unmittelbar vor der Aufnahme in den Orden. Da wird sie von der Oberin gedrängt, noch einmal ihren Onkel Don Jaime (Fernando Rey) auf seinem Gut zu besuchen. Dieser hatte Viridiana bisher finanziell unterstützt, aber ansonsten keinerlei persönliches Interesse an der jungen Dame gezeigt. Dies ändert sich schlagartig, als Don Jaime Viridians Ähnlichkeit zu seiner verstorbenen Frau entdeckt.

Don Jaime lässt Viridiana sogar das Brautkleid der kurz nach der Hochzeit Verstorbenen tragen und gesteht ihr völlig überraschend seine Liebe. Als die ebenso prüde, wie strenggläubige Viridiana abweisend reagiert, lässt Don Jaime ihr ein Betäubungsmittel in den Kaffee schütten, trägt sie ins Bett und fasst die Bewusstlose heimlich an. Um sie doch noch zum Bleiben zu überreden, erzählt er ihr am nächsten Tag, dass er sie sogar vergewaltigt habe. Doch Viridiana lässt sich nicht von ihrer gelanten Abreise abbringen. Aber als sie am nächsten Tag gerade in den Bus steigen will, wird sie von der Polizei zurück geholt, denn Don Jaime hat sich erhängt.

Nun erbt Viridiana zusammen mit Don Jaimes unehelichen Sohn Jorge (Francisco Rabal) das Gut. Da sie sich nach den jüngsten Ereignissen nicht mehr würdig fühlt das Leben in einem Kloster anzutreten, bleibt auch sie. Doch während Jorge ganz pragmatisch versucht, dass heruntergekommene Anwesen wieder in Schuss zu bringen, startet Viridiana nun ihr ganz eigenes karitatives Projekt: Sie nimmt einige Bettler in das Anwesen auf. Doch diese zeigen sich äußerst undankbar...

KRITIK:

VIRIDIANA ist der einzige Spielfilm, den der gebürtige Spanier Luis Buñuel in seinem Heimatland gedreht hat. Nach seinen ersten beiden in Frankreich entstandenen Skandalfilmen EIN ANDALUSISCHER HUND (1929) und DAS GOLDENE ZEITALTER (1930) drehte er hier zwar LAS HUERDES (1933). Doch letzterer war mehr ein kürzerer Dokumentarfilm über das Elend in der gleichnamigen völlig verarmten und rückständigen spanischen Gegend. Anschließend emigrierte Buñuel aufgrund des Sieges der Frankisten in Spanien in die USA. Doch auch seine dortige Karriere erstickte sehr schnell im Keim, als sein ehemaliger Mitstreiter Salvador Dalí ihn aus einer Laune heraus als Atheisten und Kommunisten denunzierte.

Als Luis Buñuel in dieser Situation ein Filmangebot aus Mexiko erhielt, zog er in abermals um und blieb sein ganzes Leben im mexikanischen Exil. Dort wurde er zu einem durchaus vielbeschäftigten, erfolgreichen Filmemacher. Doch die meisten seiner mexikanischen Filme, waren mehr kommerzielle Auftragsarbeiten, als Wunschprojekte, die Buñuel in erster Linie annahm, um seine Familie ernähren zu können. Doch unter diesen Filmen waren doch auch einige, wie z.B. EL und SIMON IN DER WÜSTE in denen Buñuel seine persönliche Vision weitestgehend verwirklichen konnte und durch welche er immer mehr an internationalem Renomee gewann.

Zu dieser Zeit geriet Franco mit seiner faschistischen Regierung innerhalb Europas immer mehr unter Legitimationsdruck. Deshalb dachte der spanische Diktator sich einen vermeintlich sehr cleveren Schachzug aus: Indem er dem einstmals verhassten, aber mittlerweile scheinbar sehr gemäßigten, Surrealisten einen Arbeitsauftrag gab, konnte er der ganzen Welt demonstrieren, was für ein freies und tolerantes Land Spanien doch in Wirklichkeit war.

Und entgegen aller Erwartungen, nahm Luis Buñuel dieses Angebot tatsächlich an und handelte sich dafür verständlicherweise gerade innerhalb Spaniens eine Menge an Kritik gerade auch aus der liberalen bzw. kommunistischen Ecke ein. Dazu muss auch noch gesagt werden, dass Buñuel sich nach Francos Machtübernahme standhaft geweigert hatte auch nur einen Fuß auf spanischen Boden zu setzen. Selbst seine jährlichen Treffen mit seiner Mutter geschahen deshalb immer auf der französischen Seite der Grenze. Was hat den ewigen Querkopf also zu diesem scheinbaren Sinneswandel veranlasst? Die Antwort lautet: VIRIDIANA.

Zwar stand das gesamte Projekt unter Aufsicht der spanischen Zensur. Doch aufgrund der eindeutig wohlwollenden Haltung von Francos Seite passierte Luis Buñuels Drehbuch diese fast ohne jede Änderung. Lediglich der Schluss wurde scheinbar ein wenig entschärft. Doch dies war eine Änderung, die Buñuel mit größter Freude akzeptierte, da das neue Ende in Wirklichkeit somit sogar an subversiver Kraft gewann.

Auch ansonsten waren die Zensoren anscheinend relativ blind gegenüber dem wahren subversiven Potential des Films. Dass der fertige Film die Endabnahme durch die spanische Zensur tatsächlich passieren konnte, wurde sicherlich auch dadurch begünstigt, dass man den Zensoren den Film ohne Ton vorführte und die Szene, bei der ein Kruzifix sich als ein Messer entpuppt vorsorglich herausgeschnitten hatte...

Zu diesem Zeitpunkt hatte Luis Buñuel jedoch bereits dafür gesorgt, dass eine intakte Kopie des vollständigen Films die französische Grenze passierte, um auf den allerletzten Drücker in Cannes gezeigt werden zu können. Sehr plastisch schildert Buñuel in seiner Autobiografie "Mein letzter Seufzer", wie sein Sohn zusammen mit einigen Toreros die brisanten Filmrollen unter allerlei Stierkampf-Utensilien versteckt auf einem Eselskarren über die französische Grenze geschmuggelt hat. Die spanischen Grenzposten waren von dieser konspirativen Truppe übrigens äußerst angetan und winkten diese mit einem fröhlichen "Suerte matador!" über die Grenze...

In Cannes gewann VIRIDIANA dann auch gleich die Goldene Palme - die erste derartig renommierte Auszeichnung für einen spanischen Film überhaupt! Gerüchte besagen, dass sich Muñoz Fontán, der spanische Generalfilmdirektor, in der Nacht nach der Aufführung und vor der Preisverleihung in einer bösen Vorahnung in sein Zimmer eingeschlossen haben sollte...

Ob dies nun den tatsächlichen Begebenheiten entspricht oder nicht: Fakt ist, dass Fontán und der Rest der spanischen Delegation in Cannes nur drei Tage später ihrer Ämter enthoben wurden. VIRIDIANA wurde in Spanien nicht nur verboten. Dem Film wurde sogar im Nachhinein die Dreherlaubnis entzogen und alle aufzufindenden Kopien im Ausland wurden unter dem Vorwand konfisziert und vernichtet, dass es sich hierbei um ?illegale Schmuggelware? handle. Tatsächlich wurde VIRIDIANA zum größten Skandal in der spanischen Filmgeschichte und blieb dort bis zum Tode Francos verboten.

Buñuel hat all dies jedoch wenig tangiert. Der hatte sich rechtzeitig wieder nach Mexiko abgesetzt und sich dort vermutlich diebisch über den durchschlagenden Erfolg seines Trojanischen Pferdes gefreut... Doch was hat es mit diesem Film nun eigentlich wirklich auf sich?

Wenn man sich die mit Abstand berühmteste und auch visuell herausragendste Szene des Films anschaut, dass wird der damalige Aufruhr, den VIRIDIANA in der gesamten katholischen Welt verursacht hat, sofort verständlich:

In ihr feiern die Bettler in Abwesenheit der Hausherrn ein wildes Gelage in deren Villa, bei der irgendwann eine von ihnen ihren Rock hochhebt und anschließend die gebannt auf sie starrende Meute fotografiert. Und dieser Schnappschuss, bei dem für einen Moment der gesamte Film einfriert, zeigt die ausschließlich aus selbstsüchtigen und zügellosen Krüppeln, Blinden, Zwergen usw. bestehende Versammlung von Bettlern in genau der Pose, in welcher Leonardo da Vinci Jesus und seine Jünger i seinem berühmten Bild "Das letzte Abendmahl" festhielt!

Aber in erster Linie ist VIRIDIANA trotzdem einfach die Geschichte einer weltfremden Idealistin, die an der sie umgebenden harschen Realität zu zerbrechen droht. Sicherlich ist es kein Zufall, dass diese Viridiana nicht irgendeine weltfremde Idealistin, sondern ausgerechnet eine Klosterschülerin ist. Doch zugleich ist eben diese Viridiana nicht nur die einzige Identifikationsfigur, sondern auch die einzige wirkliche Sympathieträgerin des Films. Und spätestens dieser Umstand sollte doch jedem zu denken geben, der in VIRIDIANA noch immer Luis Buñuels "gnadenlose Abrechnung mit dem Katholizismus" sieht, als welcher dieser Film weiterhin vielerorts gilt.

Einer, welcher schon damals die generelle Verurteilung des Regisseurs durch die Katholische Kirche (und somit in ganz Spanien) nicht uneingeschränkt teilen mochte, war Buñuels Lehrer der Jesuitenschule in Saragossa, welche der Buñuel in seiner Kindheit besucht hatte. Ihm zufolge kehrte der Regisseur auch später gerne zu dieser zurück, da er diese in positiver Erinnerung behalten habe. Auch meint dieser katholische Lehrer, dass Luis Buñuel zwar ein Atheist sei, jedoch einer, welcher Zeit seines Lebens Ansätze von Glauben hatte, welche sich deshalb auch in seinen Filmen finden würden.

Das klingt sicherlich alles recht widersprüchlich. Aber genau diese Widersprüche sind es, welche Luis Buñuel auszeichnen und die seine (besten) Werke zu solchen komplexen und vielfältig interpretierbaren Werken haben werden lassen. Und VIRIDIANA ist dafür ein sehr schönes und auch relativ eingängiges Beispiel. Denn bei aller historischen Bedeutung, welche diesem Film auch aufgrund der ganzen seine Produktion begleitenden Umstände zukommt: Im Vergleich zu vielen seiner kurz darauf in Frankreich entstandenen Meisterwerke, wie z. B. BELLE DE JOUR (1967) ist VIRIDIANA geradezu schlicht geraten.

Bereits auf visueller Ebene ist schnell ersichtlich, dass VIRIDIANA die Finesse seiner späteren französischen Filme noch weitestgehend abgeht. Bis auf die bereits erwähnte durch die Bettler nachgestellten Abendmahlszene finden sich hier recht wenig visuell bestechende Glanzlichter. Der Großteil des Films ist von Buñuel einfach sehr souverän, aber weitestgehend unspektakulär abgedreht worden. Dies entspricht nach seiner eigenen Aussage der Arbeitsweise, welche er (aus Mexiko) gewöhnt war, da er die meisten seiner Filme einfach mit einem geringen Budget in kurzer Zeit abdrehen musste. Davon abgesehen interessiere er sich auch einfach weniger für ausgefeilte filmische Kompositionen, als für die dargestellten zwischenmenschlichen Beziehungen.

Und es sind auch genau diese sehr genau festgehaltenen Eigenarten und Unarten, welche VIRIDIANA wirklich zu einem faszinierenden Film machen, und eben nicht die hier zumeist sehr offensichtliche Symbolik. Denn gerade letzterer geht all die Mehrdeutigkeit ab, welche Filme wie BELLE DE JOUR zu immer wieder sehenswerten Meisterwerken macht. Aber auf menschlicher Ebene zeichnet sich auch bereits VIRIDIANA durch solch eine Vielschichtigkeit aus. Viridiana ist z.B. zugleich eine fast lächerliche, weltfremde Idealistin und zugleich genau die Person, welcher der Zuschauer als einziger unbedingt ein Happy End wünscht.

Und gerade die Art, wie dieses extrem sarkastische Pseudo-Happy-End inszeniert ist, zeigt ganz klar, dass auch der das aufstrebende Bürgertum vertretende Jorge nicht als ein wirkliches Gegenmodell zur alten, verkrusteten und vom Katholizismus geprägten Gesellschaft geeignet ist. Nicht umsonst sollte Buñuel eben dieses Bürgertum wenig später mit Filmen wie DER DISKRETE CHARM DER BOURGEOISIE (1972) ebenfalls gehörig auf die Schippe nehmen.

Auch die Bettler, taugen ganz sicherlich nicht als ein positives Gegenbild zu der Gesellschaft, die sie (Anfangs scheinbar zu Unrecht) ausgestoßen hat. Denn einer der überraschendsten und jeder politischen Korrektheit ins Gesicht spuckenden Wendungen des Films besteht ja gerade darin, dass sich diese als genau die Ansammlung an menschlichen Abschaum entpuppen, als welche sie von den braven Bürgern bereits zuvor betrachtet wurden. Und genau hier bricht Buñuels Surrealismus völlig unverhohlen hervor.

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FAZIT:

VIRIDIANA zeigt den rabenschwarzen Humor eines Mannes, der all die Verrücktheiten und Unzulänglichkeiten seiner Mitmenschen genau kennt, diesen aber trotzdem weiterhin ein starkes Maß an Sympathie entgegenbringt. VIRIDIANA zeigt den ebenso subversiven, wie unparteiischen Geist eines Regisseurs, dem es gefällt, wenn einer seiner besten Freunde einen Monat nicht mehr mit ihm sprechen mag, weil ihn einer seiner Filme derart missfallen hat. Und VIRIDIANA zeigt auch das große Herz eines Mannes, der sich freut, wenn eben dieser Freund ihn nach diesem Monat wieder zum Essen einlädt. Denn: Hey, am Ende werden wir doch alle zusammen sitzen und Karten spielen!

VIRIDIANA ist soeben erstmalig ungekürzt bei Pierrot Le Fou auf Deutsch auf DVD erschienen. Außer einem Booklet mit den die Entstehung des Films betreffenden Passagen aus seiner Autobiografie "Mein letzter Seufzer", findet sich dort als Extra eine außergewöhnlich interessante französische Dokumentation, der welcher versucht wird den Menschen Buñuel zu beleuchten. In ihr finden sich auch viele der hier wiedergegebenen Aussprüche des spanischen Regisseurs.

Dazu noch eine letzte Anekdote zum Schluss: Als ein Reporter Buñuel auf einem Hügel mit Blick auf Toledo zu seinen damaligen regelmäßigen Besuchen dieser Stadt interviewt, hört man im Hintergund auf einmal das "I-Ah" eines Esels. Buñuel ist sichtlich interessierter an diesem Esel, als an den Fragen des Reporters, der auf jede seiner Fragen eine eindeutige Antwort haben will. Lachend meint der Regisseur, man solle jetzt ein Bild des Esels in diese Doku schneiden, damit jeder weiß, dass dies eben der Esel und nicht sie gewesen seien. - Als nächstes zeigt der Film pflichtbewusst eben diesen Esel. - Ich bin mir sicher: Hierüber hat Buñuel anschließend noch weit mehr gelacht!

WERTUNG: 9 von 10 degenerierte Bettler
TEXT © Gregor Torinus
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