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Komm und sieh

Komm und sieh

OT: Idi i smotri
DRAMA: UDSSR, 1985
Regie: Elem Klimov
Darsteller: Aleksey Kravchenko, Olga Mironova, Liubomiras Laucevicius, Vladas Bagdonas

STORY:

Weißrussland 1943. Florja Gaishun will Partisane werden und die Deutschen aus seiner Heimat vertreiben. Sein Wunsch wird erfüllt und eine Odyssee beginnt.

KRITIK:

KOMM UND SIEH ist Elem Klimows letzter und wohl bekanntester Film. Geschrieben wurde er von Klimow und vom weißrussichen Schriftsteller Ales Adamowitsch. Dieser war selbst Partisane im Zweiten Weltkrieg. Die Arbeiten am Drehbuch waren 1977 abgeschlossen. Mit dem Filmen konnte aber nicht gleich begonnen werden. Sieben Jahre mussten sie warten, bis ihr Skript schließlich freigegeben wurde. 1985 kam der Film dann in die Kinos. Der Kreml wollte einen Film zeitgerecht zum vierzigjährigen Jubiläum des Sieges über Nazi-Deutschland.

"The world doesn't know about Khatyn! They know about Katyn, about the massacre of the Polish officers there. But they don't know about Belorussia. Even though more than 600 villages were burned there!" So Klimov in einem Interview, übersetzt von der englischsprachigen Wikipedia. Das Massaker spielt zwar eine zentrale Rolle im Film. Viel mehr noch geht es aber um Florjas Reise von der Unschuld zu einer (überhöhten) Realität.

Im zitierten Interview sagt Klimov, dass man für den Darsteller des Protagonisten einen Laien gesucht hat, da ein professioneller Schauspieler sich hinter seiner Technik und seiner Erfahrung versteckt hätte. Alexei Krawtschenko, der Darsteller Florjas und damals noch Laie, hatte keinen solchen Schutzmechanismus. Der Film wurde chronologisch in neun Monaten abgedreht, sodass die Geschichte des Schauspielers mit jener der von ihm dargestellten Figur in gewisser Weise verschmilzt. Florja sieht man am Ende jedenfalls seine Erschöpfung an.

Immer wieder gibt es Großaufnahmen von Florjas Gesicht (und anderen Gesichtern). Am Anfang ist es offenes, strahlendes, lachendes, optimistisches Gesicht. Zum Beispiel als er mit seinem Freund in den Dünen außerhalb ihres Dorfes nach Kriegsüberresten sucht. Um Partisane zu werden, Florjas größter Wunsch, braucht er nämlich eine Waffe. Er findet ein Gewehr und muss es mühsam aus dem Sand ziehen. Vor Freude fast berstend hält er es über seinen Kopf.

Dann blickt er zum Himmel und sieht ein Flugzeug, das die Dünenlandschaft mit Propaganda beschallt. Ein Bild das ähnlich oft wie die Großaufnahme von Florjas Gesicht eingesetzt wird. Immer ist das gleiche Flugzeug zu sehen. Immer bringt es Botschaften von oben. Mal beschallt es mit Propaganda, mal wirft es antisemitische Flugzettel ab, mal wirft es Fallschirmjäger ab, mal wirft es eine leere Weinflasche ab.

Und immer ist es Florja der hinauf zum Himmel sieht. Von Mal zu Mal verändert sich dabei sein Gesicht. Aus dem fröhlichen, wird ein verwirrtes, wird ein verstörtes, wird ein panisches Gesicht.

Der Film ist auch in Gewaltszenen immer nah bei Florja und konzentriert sich auf seine Wahrnehmung des Geschehens. Wenn Bomben fallen zerplatzt sein Trommelfell. Die zuvor gespielte Musik wird von einem Sinuston überlagert. Wenn eine Maschinengewehrsalve eine Kuh niederstreckt, stellt Florja sich tot. Es erstarrt alle Bewegung der sonst so agilen Steadicam.

Auch in den letzten vierzig Minuten ist der Film bei Florja. Bei der Bebilderung des Massakers von Khatyn verstärkt und konzentriert der Film die zuvor eher spärlich eingesetzten surrealen oder realitätsverzerrenden Elemente. Der Sturmbannführer mit einem Lori auf der Schulter. Die kollaborierenden Schutzmannschaften, die tanzend und Akkordeon spielend die Deutschen anfeuern. Die alte Frau, die in ihrem Bett auf eine Anhöhe getragen wird und vom brennenden Dorf in ihrem Rücken beleuchtet wird. Florjas Gesicht, inzwischen zur Grimasse erstarrt, ist der einzige Bezugspunkt der Kamera, die im Chaos herumirrt.

Das beinahe Ende vor dem richtigen, offenen Ende will ich nicht vorwegnehmen. Nur so viel: Es kommt zu einem "Gesichts-Duell", das man z.B. mit Nietzsche interpretieren könnte. "Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein."

Komm und sieh Bild 1
Komm und sieh Bild 2
Komm und sieh Bild 3
Komm und sieh Bild 4
Komm und sieh Bild 5
Komm und sieh Bild 6
Komm und sieh Bild 7
Komm und sieh Bild 8
FAZIT:

Der sowjetische Antikriegsfilm KOMM UND SIEH entwickelt einen ungeheuren Sog. Von Anfang an ist das kein gemächliches Ziehen, sondern ein brutales Zerren. Unbedingt sehenswert.

Dank des unermüdlichen Engagements des Labels BILDSTÖRUNG wird KOMM UND SIEH ab 22.10.2020 in ausgewählten deutschen Kinos gezeigt.

Am 27.11.2020 kommt der Film auf DVD und BLU-RAY.

WERTUNG: 10/10
Gastreview von Florian Dietmaier
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