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Tausendschönchen

Tausendschönchen

OT: Sedmikrásky
KOMÖDIE/EXPERIMENTALFILM: Tschechoslowake, 1966
Regie: Vera Chytilová
Darsteller: Ivana Karbanová, Jitka Cerhová, Marie Cesková, Jirina Myskova

STORY:

Die blonde Marie (Ivana Karbanová) und die brünette Marie (Jitka Cerhová) stellen fest, dass alles in der Welt verdorben ist und beschließen deshalb ab sofort selbst verdorben zu sein. Gesagt, getan. Augenblicklich machen die beiden Schwestern sich auf, ältere Herren auszunehmen, ausgiebig zu schlemmen und auch ansonsten allerhand Unfug zu treiben. Kann dies auf Dauer gut gehen?

KRITIK:

Vera Chytilovás TAUSENDSCHÖNCHEN ist nach Jaromil Jires VALERIE - EINE WOCHE VOLLER WUNDER und Juraz Herz´ DER LEICHENVERBRENNER bereits der dritte Film der Tschechoslowakischen Neuen Welle, der von dem Label Bildstörung in gewohnt brillanter Qualität und üppiger Aufmachung veröffentlicht wird. Somit wurde erneut eine Perle des Osteuropäischen Kinos vor dem Vergessen gerettet und erstmals überhaupt in Deutschland herausgebracht. Doch was hat es mit dieser Tschechoslowakischen Neuen Welle nun genau auf sich?

Zumindest im Falle von dem auch als DAISIES bekannten Film TAUSENDSCHÖNCHEN ist der Einfluss der französischen Nouvelle Vague, und hier insbesondere der von Godard, unübersehbar. Vera Chytilovás Film verbindet weitestgehend handlungsfreien und wie improvisiert wirkendem Schabernack mit einem unglaublichen filmischen Ideenreichtum, der TAUSENDSCHÖNCHEN in die Nähe des Experimentalfilms rückt.

Der komödiantische Grundton und die Unbekümmertheit, mit dem die Regisseurin alle Arten von visuellen und auditiven Spielereien in den Film einbringt, erinnert an Jean-Luc Godards ersten Farbfilm EINE FRAU IST EINE FRAU (1961). Doch im Gegensatz zu diesem Frühwerk Godards klingen in Chytilovás TAUSENDSCHÖNCHEN auch immer wieder kritischere Töne an, die bereits in Richtung von Godards spätere Filme, wie ZWEI ODER DREI DINGE, DIE ICH VON IHR WEISS (1967) weisen.

Doch soll hier keineswegs der Eindruck vermittelt werden, dass TAUSENDSCHÖNCHEN nur eine Art von tschechischem Abklatsch der französischen Nouvelle Vague ist. Tatsächlich ist dies einer der wenigen Filme, der so originell ist, dass er im Prinzip eine Kategorie für sich bildet. TAUSENDSCHÖNCHEN ist eine Art von assoziativer Collage und stößt die verschiedensten Themen kurz an, ohne sie unbedingt weiter auszuführen oder gar eindeutig zu einer Sache Stellung zu beziehen.

So zeigen die ersten Bilder abwechselnd Kriegsszenarien und die Zahnräder einer großen Maschine. Als nächstes sieht man die wie Puppen wirkenden Schwestern Marie und Marie an einer Wand gelehnt auf dem Boden sitzen und über die allgemeine Verderbtheit der Welt nachsinnen. Bei jeder ihrer Bewegungen erklingt ein Knarren und Quitschen, wie bei schlecht geölten Marionetten oder Maschinen. Das Bild wechselt von Farbe zu Schwarzweiß und zu monochromen Bildern mit ständig wechselnden Farbfiltern. Diese Verbindung von einem angedeuteten kritischen Ernst mit groben Unfug durchzieht den gesamten Film.

Nie ist in TAUSENDSCHÖNCHEN ganz klar, ob die beiden Protagonistinnen nun Heldinnen sind, welche auf ihre Art die einzig logische Konsequenz aus dem sie allerorten umgebenden Missstand der Welt ziehen oder ob der Film nicht gerade das völlig verantwortungslose Verhalten dieser beiden verzogenen und egoistischen Teenager kritisieren will oder gar beides oder auch keines von beidem. Aber egal, wie man die Sache letztendlich wendet, am Ende bleibt immer ein recht nihilistischer Geschmack zurück. Und vielleicht war es dieser, der den damaligen Zensoren so sauer aufstieß, dass der Film in seiner Heimat schnell im Giftschrank verschwand.

Eine eindeutige Kritik am damaligen kommunistischen Regime ist in TAUSENDSCHÖNCHEN jedenfalls nicht wirklich enthalten. Und als Godard einige Jahre später die Tschechoslowakei besuchte, um eine Dokumentation über den dortigen Sozialismus zu drehen, hatte er dort zwar auch ein Interview mit Vera Chytilová geführt, dieses jedoch später aus dem Film herausgeschnitten, da ihm die Dame zu reaktionär erschien.

Aber genau die Tatsache, dass sich TAUSENDSCHÖNCHEN jeder klaren Kategorisierung entzieht, hat diesem Film eine Frische bewahrt, welche manchem zu offensichtlich propagandistischem Werk Godards leider abgeht. Letzten Endes ist es hier auch nicht wirklich die inhaltliche Ebene, welche von größtem Interesse ist. Denn spätestens wenn Marie und Marie erst sich und dann den gesamten Film, in dem sie selber gerade mitspielen mit der Schere zerschnippeln, explodiert TAUSENDSCHÖNCHEN vor reiner ungebändigter Kreativität und zeigt einen schier endlosem Einfallsreichtum, der einfach nur begeistern kann.

Die fast völlige Abwesenheit einer echten Handlung lässt den nur 73 Minuten langen Film jedoch trotzdem häufiger mal recht lang werden. Aber selbst, wenn TAUSENDSCHÖNCHEN mal wieder im völligen Leerlauf hängenzubleiben scheint, warten die beiden Schwestern doch auch immer wieder mit wirklich philosophischen Gedanken auf. Da wird anhand eines Hühnereis Sprachphilosophie betrieben ("Warum heißen die Dinge, wie sie heißen und nicht anders?") oder die beiden Schwestern versichern sich aufgrund ihrer Wahrnehmung durch die jeweils andere ihrer eigenen Existenz.

Tausendschönchen Bild 1
Tausendschönchen Bild 2
Tausendschönchen Bild 3
Tausendschönchen Bild 4
Tausendschönchen Bild 5
Tausendschönchen Bild 6
Tausendschönchen Bild 7
Tausendschönchen Bild 8
FAZIT:

TAUSENDSCHÖNCHEN ist ein wilder Bastard aus Slapstick und Philosophie, aus Kleinmädchen-Komödie und Experimenteller Kunst, aus Unsinn und Politik. Der Film ist häufiger langweilig und entfesselt zugleich ein schier unglaubliches Feuerwerk an filmischen Ideen, wie man es nur sehr, sehr selten zu sehen bekommt.

WERTUNG: 8 von 10 ebenso unbekümmerte, wie verdorbene Handlungen
TEXT © Gregor Torinus
Dein Kommentar >>
Marcel | 30.07.2012 12:11
Tausendschön wird voraussichtlich im Oktober im Filmclub 813 gezeigt. Geplant ist eine Reihe über die Tschechische Welle, dazu gehören auch die erwähnten Valerie und Der Leichenverbrenner. Ich freue mich sehr darauf. Die Kritik ist ein schöner Appetizer.

Und dein Hinweis, dass auch ein Godard Schwierigkeiten hat, wenn die eigene Erwartungshaltung nicht erfüllt wird oder die Schublade, in der man sein Gegenüber packen möchte, nicht passt, sagt viel über den Menschen Godard aus.
Gregor | 31.07.2012 02:38
Ist halt auch nur ein Mensch... tendenziell fanatisch wohl noch dazu...
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