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Marnie

Marnie

THRILLER: USA, 1964
Regie: Alfred Hitchcock
Darsteller: Tippi Hedren, Sean Connery, Diane Baker

STORY:

Marnie, eine Kleptomanin, wird von Ihrem Chef Mark des Diebstahls überführt. Anstatt sie der Polizei zu übergeben, vertuscht er die Tat und zwingt Marnie, ihn zu heiraten. Marnie ist jedoch völlig apathisch und nicht in der Lage, Marks Zärtlichkeiten zurückzugeben oder wenigstens zu erdulden. Die Hochzeitsreise endet in einer Katastrophe, als Mark Marnie mit Gewalt nimmt und sie danach ihrem Leben ein Ende bereiten will. Doch Mark kommt auch der Ursache ihrer psychischen Störungen näher...

KRITIK:

MARNIE ist sicher eines der faszinierendsten Werke Hitchcocks. Nicht sein bestes, gerade in technischer Hinsicht von ungewohnt schwankender Qualität, aber vermutlich neben VERTIGO sein persönlichstes. In einer Zeit, in der die USA sich gerade im Umbruch befanden, die sexuelle Revolution aber noch ausstand, spricht Hitchcocks Werk so schwierige Themen wie eine Vergewaltigung in der Ehe und eine Fetischliebe an und ist damit seiner Zeit um mindestens ein Jahrzehnt voraus. Andererseits simpliziert Hitchcock dabei vieles, stellenweise ist MARNIE einfach geschwätzig, ja zum Teil sogar altbacken.

Gerade diese ungewohnte Zerrissenheit, die Hitchcocks Film auf ganz eigene Weise von seinen anderen Werken abhebt, dokumentiert die schwierige Entstehung, ausgehend von einem absoluten Wunschprojekt, welches er direkt nach PSYCHO anging (aber erst nach THE BIRDS fertigstellte), hin zu einem Film, von dem er sich später distanzierte, ihn als inkonsequent gedreht und schlecht geschauspielert bezeichnete, der in jedem Fall aber der Beginn einer Schaffenskrise war, die acht Jahre lang anhielt.

MARNIE sollte zunächst das Comeback von Grace Kelly darstellen. Die sagte Hitchcock voller Vertrauen zu, musste dann aber feststellen, dass sie als Fürstin kaum eine derart gewagte Rolle hätte spielen können. Hitchcock war tief enttäuscht, sah danach aber Tippi Hedren in einem Fernsehspot und engagierte das völlig unbekannte Modell für einen Siebenjahresvertrag. Dieser Vertrag war Segen und Fluch zugleich, der Beginn einer Karriere und ihr gleichzeitiges Ende.

Hitchcock begann Tippi Hedren als Star aufzubauen, genauer: als seinen Star. Er erschuf ein Kunstprodukt nach seinen Vorstellungen, sie bekam eine komplette Garderobe gestellt und Anweisungen, wie sie ihre Freizeit zu verbringen hat. Und noch mehr: er stellte Besitzansprüche. Miss Hedren war damit in einer Konfliktsituation, einerseits war sie auf ihn angewiesen, wollte ihn auch nicht enttäuschen, andererseits war sie natürlich nicht sein Besitz. Die Spannungen entluden sich erstmals bei den Dreharbeiten zu THE BIRDS, als Hitchcock einen Vogelangriff immer und immer wieder auf sie wiederholen ließ, bis die dressierten Vögel nicht mehr spielten, sondern tatsächlich völlig aufgedreht nach ihr hackten. Die traurige Folge, ein Nervenzusammenbruch, Beruhigungsmittel, eine Woche Drehunterbrechung.

Unter diesen Vorzeichen begann Hitchcock nun, MARNIE vorzubereiten und zu schreiben. Insbesondere Marks Charakter entsprach dabei durchaus seinem Alter Ego: Freundlich nach außen, stil- und geschmackvoll, aber innerlich voller unterdrückter Obsessionen. Mark möchte Marnie beherrschen und nutzt ihre Situation und Schwäche hemmungslos aus, ähnlich wie es Hitch bei Miss Hedren tat. Mark begehrt Marnie nicht trotz ihrer Kleptomanie, sondern wegen. Konsequenterweise - so gibt Hitchcock gegenüber Francois Truffaut zu - hätte Mark Marnie eigentlich direkt neben einem ausgeräumten Safe vergewaltigten müssen. Das natürlich war 1964 in einem Hollywoodfilm absolut indiskutabel, auch wenn er vom Meister selbst ist. Hitchcock wusste sehr genau, wie weit sein Publikum bereit wäre, ihm zu folgen.

MARNIE kehrt mit einer Reihe von Themen zu seinen früheren Filmen zurück und reiht sich so ein:

  • so war zuvor Grace Kelly von Cary Grant fasziniert, nicht trotz, sondern weil er der berühmte Juwelendieb 'Die Katze' war, wenngleich TO CATCH A THIEF selbstredend spielerischer und leichter als MARNIE ist.
  • obsessiv war auch James Stewart nekrophile Liebe zu Kim Novak in VERTIGO, dem MARNIE stilistisch am nächsten kommt.
  • Marnies Phobie vor der Farbe Rot entspricht wiederum Gregory Pecks Angst vor weißer Farbe in SPELLBOUND, Hitchcocks erster Film, der Psychoanalyse thematisiert.
  • Diebstahl, gestörte Sexualität und die auflösende Psychoanalyse sind weiterhin essentielle Themen, die PSYCHO antreiben, dem eigentlichen, direkten Vorgänger.

Ein weiteres, zentrales Thema ist die Beziehung zur Mutter, die bei Hitchcock durchweg dominant ist. Mutter ist allgegenwärtig, selbst in leichten Filmen wie TO CATCH A THIEF, bei der Jesse Royce Landis das Happy End versaut, weil sie beim Liebespaar einziehen wird. In PSYCHO bestimmt die Mutter sogar nach ihrem Tod das Leben ihres Sohnes. Marks Mutter taucht zwar im ganzen Film nicht auf, aber Mark zeigt mit einigen Sätzen seinen gehörigen Respekt vor ihr. Marnies Verhältnis zu ihrer Mutter ist nun eins der schwierigsten Verhältnisse, die Hitchcock je auf die Leinwand brachte. Marnie tut alles, um die Liebe ihrer Mutter zu erhalten, aber scheinbar ist sie einfach nicht gewollt.

Marnie selbst ist - wie Tippi Hedren - ein Produkt Hitchcocks Fantasie. Minutenlang verharrt die Kamera auf ihren blonden Haaren, Hitchcock gab sogar Anweisung, ihrem Mund so nah zu filmen, dass die Kamera sie fast küsst. Aber anders als die bisherigen Blondinen ist Marnie nicht nur ein Eisberg nach außen, sondern durch und durch. Dennoch gab es eine Szene, die sehr deutlich zeigt, welches Bild Hitchcock von seiner Wunschfrau hat. Denn Marnie sollte nach ihrer Heilung mit Mark Sex haben - in aller Öffentlichkeit, bis die Polizei sie deswegen verhaftet (und nicht etwa wegen ihrer kriminellen Vergangenheit). Hitch ließ die Szene jedoch fallen - weil er nicht wusste, wie er die Situation in ein Happy End hätte münden lassen können.

Hitchcock steigerte sich während der Dreharbeiten immer mehr in seine Traumwelt und sein Begehren von Tippi Hedren. Donald Spoto schreibt in seiner Biografie von einem offenen sexuellen Angebot, dass Miss Hedren weder ignorieren noch leichtfertig vom Tisch fegen konnte. Ihre Ablehnung führte zu einem tiefen Bruch, Hitchcock sprach kein weiteres Wort mehr mit ihr, Regieanweisungen erfolgten über Dritte. Aufgrund des Exklusivvertrages konnte sie nach dem Film auch lange kein anderes Engagement annehmen.

Hitchcock verlor danach ganz offensichtlich das Interesse am Film. Nur so sind die ungewohnten technischen Unzulänglichkeiten zu erklären, die sich immer wieder einschleichen, insbesondere die gemalte Ansicht des Hafens und die schlechten Rückprojektionen. Dennoch hat die Zeit dem Film gerade hierfür eine gnädige Patina ansetzen lassen, die technischen Fauxpas fallen heute nicht weiter auf, weil man Rückprojektionen, egal wie gut sie seinerzeit waren, inzwischen schnell entlarvt, aber auch als gegeben hinnimmt.

Auf der anderen Seite besticht MARNIE durch die wunderbare Fotografie von Robert Burks, Hitchcocks langjährigen Kameramann. Seine Pastellfarben geben MARNIE einen freundlichen, ja fast impressionistischen Look. Und natürlich sind da einige bis heute beeindruckende Einstellungen, die Hitchcocks technische Versiertheit und seine Fähigkeit, uns zu manipulieren, untermauern: Bei Marnies erstem Saferaub sieht man eine Splitscreentechnik, ohne dass dafür die Leinwand künstlich überhöht aufgeteilt wird. Rechts bricht Marnie ein, links betritt eine Putzfrau den Raum. Wir nehmen sie wahr, aber nicht Marnie. Wird Marnie entdeckt? Wie fiebern mit ihr - mit einer psychisch gestörten Diebin - und eine unschuldige Putzfrau wird zur Bedrohung!

Marnie Bild 1
Marnie Bild 2
Marnie Bild 3
Marnie Bild 4
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Marnie Bild 6
Marnie Bild 7
FAZIT:

MARNIE gewährt einen tiefen Blick in Hitchcocks Obsessionen, voller Abgründe und ungelebter Leidenschaften. MARNIE war das heißgeliebte und dann verstoßene Kind, eine Zangengeburt, zerrissen, perfekt und unvollkommen, modern und altmodisch zugleich. Das düstere Finale einer einmaligen Schaffensperiode, die mit VERTIGO begann.

WERTUNG: 8 von 10 dunklen Seiten eines Genies
TEXT © Marcel
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Dein Kommentar >>
Gregor | 23.02.2011 15:36
Sehr schöne Kritik. Muss ich auch endlich mal sehen!
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