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GOOD MOVIES FOR BAD PEOPLE
Maitresse

Maitresse

OT: Maîtresse
DRAMA: Frankreich, 1976
Regie: Barbet Schroeder
Darsteller: Gérard Depardieu, Bulle Ogier, André Rouyer, Nathalie Keryan

STORY:

Die beiden Klinkenputzer Olivier (Gérard Depardieu) und Mario (André Rouyer) helfen Ariane (Bulle Ogier) mit deren verstopften Badewannenabfluss. Hierbei erzählt Ariane, dass die Frau in der Wohnung unter ihr gerade verreist sei. Da die beiden nicht nur Buchverkäufer, sondern auch noch Kleinganoven sind, brechen sie abends in die vermeintlich leerstehende Wohnung ein. Erst wundern sie sich über das zahlreiche BDSM-Equipment und dann sehen sie einen nackten Mann, der in einem Käfig eingesperrt ist. Plötzlich wird ein Hund auf die Einbrecher gehetzt und Ariane betritt den Raum, der Teil ihres Domina-Studios ist. Während Mario mit einer Handschelle gefesselt wird, verdient sich Mario auf höchst ungewöhnliche Weise in kürzester Zeit 200 Franc. Nachdem seine Fessel geöffnet wird, sucht Mario schnellstmöglich das Weite, während es Olivier alles andere als eilig hat. Tatsächlich kehrt er zu der Wohnung zurück und lädt Ariane zum Essen ein. Eine äußerst außergewöhnliche Beziehung beginnt...

KRITIK:

Als in den frühen Siebzigern zuerst in Dänemark, dann in den USA und kurz darauf in allen westlichen Ländern das Pornografieverbot aufgehoben wurde, brach eine bis heute immer weiter anschwellende Welle pornografischer Filme los. Doch in den ersten Jahren war der Porno noch nicht wie heute vorrangig als Masturbationsvorlage definiert. Eine ganze Reihe ernsthafter Regisseure drehte auch Pornos und viele reine Pornoregisseure waren damals sehr ambitioniert. So kam es in den besten Fällen zu einer wechselseitigen Durchdringung von Arthouse und Pornografie. Auf der einen Seite hatten Pornos zum Teil Kunstanspruch und waren als "Porno Chick" allgemein gesellschaftsfähig. So wurde z.B. ein surrealer Arthouse-Porno wie THROUGH THE LOOKING GLASS (Jonas Middleton, 1976) möglich. Auf der anderen Seite war dies auch die große Dekade der Skandalfilme, in der anerkannte Autorenfilmer das weiterhin recht biedere reine Arthouse-Publikum mit äußerst expliziten Erotikfilmen schockierte. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Richtung ist sicherlich Nagisa Oshimas ebenfalls 1976 gedrehter IM REICH DER SINNE.

Und dann gibt es noch eine dritte Kategorie von Filmen, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie sich jeder Kategorisierung verweigern. Ein Paradebeispiel für einen dieser Filme, die gleichermaßen Arthouse, wie Exploitation, Erotik, wie Pornografie sind, ist Radley Metzgers BDSM-Meisterwerk THE IMAGE (1975), der nicht umsonst auch als THE PUNISHMENT OF ANNE bekannt geworden ist. Dem sich ebenfalls der Thematik des Sadomasochismus annehmenden MAITRESSE von Barbet Schroeder (DAS GEHEIMNIS DER GEISHA, 2008) eilt ein recht ähnlicher Ruf voraus. Die Szenen in Arianes Domina-Studio wirken nicht nur äußerst authentisch, sondern sind dies sogar in der Realität. Da, wo es so richtig zur Sache geht, da wurde Bulle Ogier von einer echten Domina gedoubelt, die ihre Künste tatsächlichen masochistischen Männern angedeihen lässt. Diese Konstellation ist für das übliche Exploitation-Publikum sicherlich eher weniger vergnüglich. Auch den gewöhnlichen aufgeschlossenen Arthouse-Freund führt MAITRESSE recht schnell an die Grenzen seiner Aufgeschlossenheit. Doch wer schon immer mal sehen wollte, wie in echt männliche Brustwarzen von Nadeln durchbohrt und ein Penis auf ein Holzbrett genagelt wird, der kommt in MAITRESSE auf jeden Fall auf seine Kosten.

Dabei ist MAITRESSE keine bewusst Geschmacksgrenzen überschreitende Attacke auf den Zuschauer. Der Regisseur sagt, dass es eine der größten Herausforderungen beim Dreh war "die richtige Distanz zu finden". Ging die Kamera auf zu großen Abstand, wirkte die Szenerie zu distanziert, ging sie jedoch zu nah dran, wäre der Zuschauer schnell überfordert gewesen. Doch Barbet Schroeder und sein Kameramann Néstor Almendros (DIE LETZTE METRO, 1980) haben alles richtig gemacht. Die BDSM-Szenen wirken weder kalt analytisch, noch voyeuristisch, sondern spiegeln das offene Interesse des selbst nicht in dieser Szene aktiven Regisseurs, der einen Großteil seiner Inspiration für sein Drehbuch den Schilderungen einer befreundeten echten Domina verdankt. Dass diese Szenen zugleich sachlich, als auch auf ihre Art optisch reizvoll ausgefallen sind, ist das Ergebnis der Zusammenarbeit einer ganzen Reihe äußerst begabter visueller Stylisten. Nicht nur, dass Barbet Schroeder mit Néstor Almendros einer der größten Kameramänner seiner Zeit zur Verfügung stand. Die Kostüme wurden von Karl Lagerfeld entworfen und das Set-Design stammt von dem für seine fetischistischen Kunstwerke bekannten Pop-Art-Künstler Allen Jones.

Doch nicht nur Arianes Domina-Studio ist visuell äußerst stark stilisiert. Der gesamte Film wird von einer extremen optischen Durchdachtheit und Symbolik bestimmt. Das durch das Thema BDSM vorgegebene Pendeln zwischen verschiedenen Polaritäten durchdringt auch optisch Arianes Leben bis in das kleinste Detail hinein. Täglich wechselt sie zwischen den beiden Ebenen ihres Apartments, welche den beiden säuberlich getrennten Bereichen in ihrem Leben entsprechen. Oben befindet sich ihre gutbürgerliche französische Wohnung, deren Helle und Freundlichkeit stark mit dem düsteren Domina-Studio kontrastiert. Entsprechend hat Ariane sogar zwei verschiedene Telefone neben ihrem Bett stehen. Natürlich ist der helle Apparat für ihre Privatgespräche und der schwarze für geschäftliche Anrufe. Hat Ariane einen Termin mit einem Klienten schminkt sie sich nicht nur stark und zieht sich ein passendes schwarzes Fetisch-Outfit an, sondern zieht auch eine schwarze Perücke über ihr blondes Haar.

Ist die Verwandlung von der ebenso selbstbewussten, wie gewöhnlichen Pariserin zur MAITRESSE perfekt, erfolgt der Abstieg in die Unterwelt ihres Apartments, welcher einem Eintauchen in eine irrationale Welt des Unterbewussten entspricht. Zu diesem Zwecke wird eine unter dem ausfahrbaren Esszimmertisch versteckte elektrisch gesteuerte Treppe nach unten heruntergefahren. Diese führt in ein bläulich ausgeleuchtetes Zwischenreich in dem sich Adriane während ihrer Performances Umziehen und neu schminken kann. Es ist auch dieser Zwischenbereich von dem aus der mit der Zeit immer neugieriger werdende Olivier sie immer wieder heimlich bei ihrer Arbeit beobachtet. Gab er sich zu Anfang noch als der großherzige Macho, den die ungewöhnliche Profession seiner Geliebten prinzipiell relativ kalt lässt, so erliegt er zunehmend der Faszination dieser für ihn so fremden Welt.

Dies bedeutet für Olivier, dass er seine für ihn natürliche männliche Dominanz mit der Zeit immer mehr in Frage zu stellen beginnt. Für Ariane bedeutet diese Entwicklung, dass ihr sorgfältig in verschiedene Bereiche aufgetrenntes Leben immer mehr ins Wanken gerät. Immer stärker beginnt sich ihr Leben oben und unten in ihrer Wohnung miteinander zu vermischen und immer stärker mischt sich Olivier auch in Bereiche ein, welche Ariane komplett unter Verschluss zu halten versucht. Immer wieder wechseln die beiden ihre Rollen, was zu einiger Verwirrung, aber auch zu zahlreichen komischen Situationen führt. Überhaupt ist MAITRESSE ein ungewöhnlich leichter Film, der bereits vieles von Filmen wie DIE FLAMBIERTE FRAU (Robert van Ackeren, 1983) oder SECRETARY (Steven Shainberg, 2002) vorwegnimmt und bei dem man mit den Protagonisten mitfiebert und auf ein Happy-End in ihrem Beziehungschaos hofft. Im Gegensatz zu jenen später entstandenen Filmen besticht MAITRESSE durch seine große innere Freiheit. Die eigentliche Konfliktlinie verläuft hier nicht zwischen den gesellschaftlichen Zwängen und den eigenen Wünschen. Olivier und Ariane jonglieren einfach frei damit herum, wie sie all ihre verschiedenen Rollen und Interessen am besten unter einen Hut bringen können. Die siebziger Jahre waren eben in vielerlei Beziehung eine ganz andere Zeit...

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FAZIT:

Barbet Schroeders MAITRESSE gilt als einer der Skandalfilme der siebziger Jahre. Tatsächlich setzt der Film bis heute in Bezug auf eine ebenso explizite, wie realistische Darstellung von BDSM-Praktiken im "ernsthaften" Kino Maßstäbe. Doch wer hier auf die Befriedigung von derben Exploitation-Gelüsten hofft, der könnte sich von dem Gezeigten im wahrsten Sinne des Wortes ausgesprochen unangenehm berührt fühlen. Davon abgesehen ist MAITRESSE eigentlich ein echter Liebesfilm, der nur deshalb in einem recht ungewöhnlichen Ambiente spielt, weil Barbet Schroeder Freude an der Erforschung für ihn fremder Welten hat. Das Ergebnis ist ein Film von einzigartiger Atmosphäre, der zumindest mich aufgrund seiner Originalität schon nach wenigen Minuten für sich vereinnahmt und bis zum Ende nicht mehr losgelassen hat. MAITRESSE ist eine besonders ungewöhnlich schillernde Filmperle, ein echtes Kind der siebziger Jahre und dem Schreiber dieser Rezension mindestens 8,5 dicke schwarze Punkte wert.

WERTUNG: 9 von 10 Ameisen in der Venusfalle
TEXT © Gregor Torinus
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