DRAMA: USA, 2022
Regie: Damien Chazelle
Darsteller: Margot Robbie, Diego Calva, Brad Pitt, Max Minghella, Eric Roberts, Tobey Maguire, Flea
Auf einer ausufernden Party in der Villa eines Hollywood-Moguls laufen sie einander über den Weg: Der unermüdliche Laufbursche Manny Torres (Diego Calva) und das Nachwuchs-Starlet Nellie LaRoy (Margot Robbie). Man schreibt die 20er-Jahre. Die Filmindustrie ändert sich, der Tonfilm kommt auf, für viele Stummfilmstars endet die Party mit einem heftigen Kater.
Vielleicht habt ihr sie schon einmal auf Facebook gesehen, diese "Gegen den Tonfilm"-Plakate aus den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts: "Tonfilm ist Kitsch! Tonfilm ist Verflachung! Tonfilm ist geistiger und wirtschaftlicher Mord!".
Was heute für billige Lacher sorgt, war damals tatsächlich eine Frage des Überlebens für unzählige Existenzen. Die Erfindung des Tonfilm war für die noch junge Filmindustrie das, was man ein disruptives Ereignis nennt: Wo kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Stummfilmstars scheiterten an Sprechrollen, weil ihre Stimme nicht zu ihrer physischen Erscheinung passte. Live-Musiker verloren ihre Jobs. Und nicht zuletzt verkomplizierten sich die Dreharbeiten enorm: Kameras mussten wegen der ratternden Filmrollen in schalldichten Holzverschlägen versteckt werden, in denen es brütend heiß wurde. Schauspieler konnten nicht mehr exzessiv und angetrieben von bunten Pillen und weißem Pulver durch die Sets tanzen, sondern mussten diszipliniert ihre Markierung treffen.
Zudem wurde das gesellschaftliche und wirtschaftliche Klima immer regressiver. Die zügellose Ära von endlosen Sex- und Drogeneskapaden ging nach der Weltwirtschaftskrise mit einem großen Kater zu Ende. Der berüchtigte Hays Code, ein von rechtskonservativen Politikern eingebrachtes Zensurgesetz, sorgte dafür, dass in Hollywood für die nächsten 30 Jahre wieder Zucht, Ordnung, Moral und strenge Sittsamkeit herrschte.
Das ist der historische Hintergrund des neuen Films von Damien Chazelle (WHIPLASH, LA LA LAND), der leider in den USA brutalst gekloppt ist. Zu lange, zu laut, zu exzessiv, zu viel Stil, zu wenig Substanz, so die (substanzlosen) Vorwürfe der amerikanischen Kritiker. Das Publikum blieb in Scharen fern, wohl auch wegen der übergroßen Konkurrenz durch AVATAR.
Vielleicht wird man in 20 Jahren auf BABYLON genau so wehmütig zurückblicken wie BABYLON auf die Goldenen Zwanziger zurückblickt. Höchstwahrscheinlich wird BABYLON in die Filmgeschichte eingehen als der Letzte seiner Art: Als manischer, exzentrischer Egotrip eines jungen Wunderkinds (Chazelle ist 38), dem man Tonnen an Geld und komplette kreative Narrenfreiheit gab. Wohl zum letzten Mal, in diesem beispiellosen Jahr katastrophaler Big Budget-Flops.
Der Film ist natürlich großartig. Allein die unübertroffene Partysequenz zu Beginn. Als hätte Martin Scorsese ein Remake von CALIGULA gedreht. Abzüglich der unsimulierten Sexszenen freilich. Aber die wurden bei Caligula auch erst nachträglich eingefügt.
Nach dem atemlosen, furiosen Auftakt dauert es fast eine Stunde, bis der Film ein wenig zur Ruhe kommt. Überlang ist er, freilich. Aber es stört keine Sekunde. Und im letzten Drittel erleben wir einen Abstieg in die Hölle, den auch David Lynch nicht verstörender hätte inszenieren können.
Großartige Schauspieler natürlich, bis in die kleinsten Nebenrollen. Margot Robbie gewinnt und bricht natürlich alle Herzen als entgrenztes, selbstzerstörerisches Sexsymbol (darf man das noch so schreiben?). Diego Calva ist das emotionale Zentrum des Films, hoffnungslos unglücklich verliebt in das junge Starlet und unfähig, sie vor sich selbst zu retten, hach. Brad Pitt steht zwar in großen Buchstaben am Filmplakat, hat aber nicht die Hauptrolle. Natürlich möchte man auch ihn umarmen für seine melancholisch-dandyeske Rolle des alternden Stars, dessen Zeit im Rampenlicht unwiederbringlich vorüber ist.
Wie Tarantinos ONCE UPON A TIME IN HOLLYWOOD und Scorseses HUGO CABRET ist auch BABYLON natürlich eine Liebeserklärung an das Kino selbst. Und gleichzeitig ein gestreckter Mittelfinger an hochkulturelle Erwartungshaltungen und Sehgewohnheiten.
In diesem Sinne: "The most magical place in the world!"
Glaubt den miesepetrigen Verrissen und halblustigen Wortspielen ("Von La La Land ins Lulu-Land" (c) Falter) kein Wort. Damien Chazelles BABYLON ist ein großartiger, größenwahnsinniger, unglaublich exzessiver Trip von einem Film. Schöner kann eine filmische Liebeserklärung ans Kino nicht mehr sein.