OT: Carrie
HORROR: USA, 1976
Regie: Brian De Palma
Darsteller: Sissy Spacek, Amy Irving, Piper Laurie, John Travolta, Nancy Allen
Die schüchterne Carrie White (Sissy Spacek) ist eine Außenseiterin an ihrer Highschool. Als sie ausgerechnet unter der Dusche nach dem Sportunterricht ihre erste Regel bekommt, gerät Carrie in Panik, da ihre Mutter (Piper Laurie), eine religiöse Fanatikerin, sie noch nicht aufgeklärt hat. Die anderen Mädchen verspotten sie daraufhin auf übelste Art, weshalb die Sportlehrerin Miss Collins (Betty Buckley) ihnen zur Strafe zusätzliche Sportstunden auferlegt. Als die Anführerin Chris (Nancy Allen) sich verweigert, untersagt Miss Collins ihr die Teilnahme am Abschlussball der Schule, dem Höhepunkt der gesamten Highschoolzeit, dem bereits alle sehnsüchtig entgegen fiebern. Sue (Amy Irving) hat Mitleid mit Carrie, weshalb sie ihren Freund Tommy (William Katt) überredet zusammen mit White zum Ball zu gehen. Derweil überredet Chris ihren Freund Billy (John Travolta) zu der Durchführung eines fiesen Racheplans, der Carries Spaß am Abschlussball vollkommen zunichte machen soll. So nimmt die Katastrophe ihren Lauf...
... und der Rest ist in diesem Fall tatsächlich längst Geschichte! Brian De Palmas Horror-Drama CARRIE aus dem Jahre 1976 war die erste einer bis heute nicht abreißen wollenden Flut an Verfilmungen der Romane von Stephen King. Das Buch "Carrie" war der erste veröffentlichte Roman des damals noch ziemlich unbekannten Autors. Die Verfilmung brachte sowohl für Brian De Palma, als auch für Stephen King den großen Durchbruch. Noch heute gilt CARRIE sowohl als ein Klassiker des Horrorfilms, als auch als eine der besten Stephen-King-Verfilmungen aller Zeiten. Und dieser Ruf eilt dem Film vollkommen zurecht voraus. Damit, was De Palma mit dieser filmischen Umsetzung eines Romans von Stephen King geschaffen hat, kann ansonsten wohl nur noch Stanley Kubricks Meisterwerk SHINING (1980) mithalten.
CARRIE verbindet auf ideale Weise das Genre des Horrorfilms mit einem Drama über die Nöte einer heranwachsenden Frau. Perfekt gelingt De Palma mit diesem Werk die Synthese aus der Abgründigkeit seines ersten Thrillers SISTERS (1973) und der visuellen Eleganz und Romantik der kurz vor CARRIE entstandenen Vertigo-Homage OBSESSION (1976). Im Rückblick lässt sich sagen, dass dieses erste kommerzielle Projekt des Regisseurs zugleich dasjenige war, bei dem er seine ganz persönlichen Obsessionen und damit auch seine größten persönlichen Stärken am besten einfließen lassen konnte. In einem Werk, das seit Jahrzehnten zwischen kleinen, persönlichen und perversen "Brian-De-Palma"-Thrillern wie DRESSED TO KILL (1980) und BODY DOUBLE (1984) und großen, kommerziellen und weichgespülten Studioproduktionen, wie THE UNTOUCHABLES (1987) und MISSION IMPOSSIBLE (1996) oszilliert, bildet CARRIE eine große glückliche Ausnahme.
Die besonderen Qualitäten des Films beginnen bei seinem hervorragendem Cast. In CARRIE wirkt eine ganze Reihe an damals noch unbekannten (z.B. John Travolta) oder bereits vergessenen (z.B. Piper Laurie) Schauspielern mit, die hier nicht mit ihrem großen Namen, sondern mit ihrer starken Präsenz und ihrem präzisen Spiel beeindruckten. Insbesondere Sissy Spacek als Carrie und Piper Laurie als deren Mutter Margaret liefern wirklich beeindruckende Performances ab, die völlig zu Recht - und für einen Horrorfilm äußerst ungewöhnlich - beide mit einer Oscarnominierung honoriert wurden. Die zuvor bereits in ihrer Hauptrolle in Terrence Malicks Debütfilm BADLANDS (1973) aufgefallene Sissey Spacek verkörpert vollkommen überzeugend die zerbrechlich wirkende Einzelgängerin, die aufgrund ihrer Weltfremdheit irritiert, mit der man jedoch zugleich unweigerlich mitfühlen muss. Und Piper Laurie ist tatsächlich unheimlich, als die zunächst nur äußerst verschroben wirkende, im weiteren Verlauf der Handlung jedoch zunehmend wahnsinnig erscheinende Mutter.
Ähnlich wie das tschechische Märchen VALERIE - EINE WELT VOLLER WUNDER (1970) ist auch CARRIE eine ins Phantastische gesteigerte Darstellung der inneren Nöte, die eine werdende Frau in ihrer Pubertät durchmachen kann. Doch während VALERIE als eine allgemeine Darstellung von damit einhergehenden Unsicherheiten und Ängsten verstanden werden kann, dramatisiert CARRIE eine Situation, in der die natürliche Entwicklung einer Frau durch eine extrem konservative Familie (die fanatische Mutter) und ein ignorantes Umfeld (die oberflächlichen Mitschüler) gestört wird. Hierdurch wird CARRIE zu einer Tragödie fast griechischen Ausmaßes. Im Gegensatz zu einer üblichen Schreckensfigur in einem Horrorfilm, wie z.B. Michael Myers in HALLOWEEN (1978) ist Carrie von Natur aus alles andere als ein Monster, sondern ein klares Opfer ihrer Umgebung. Die eigentlichen Monster sind in CARRIE sowohl die fanatische Mutter, als auch die ebenso normalen, wie opportunistischen Lehrer und Mitschüler der Highschool. Die finale Katastrophe besteht konsequenterweise darin, dass Carries ursprüngliche Demütigung noch einmal in symbolischer, aber extrem gesteigerter Form wiederholt wird. Somit kann CARRIE auch als die Angstfantasie eines pubertierenden Mädchens gelesen werden.
Das Schöne und das Hässliche, vollkommenes Glück und abgrundtiefes Entsetzen vereinigen sich in dem großen Finale beim Abschlussball. Hier beweist De Palma seine unvergleichliche visuelle Meisterschaft, wodurch diese Sequenz noch heute nicht bloß funktioniert, sondern tatsächlich absolut fasziniert. Ja, hier hat wirklich jemand sein Handwerk bei Hitchcock gelernt! Die ganze Szenerie ist eine einzige überwältigende Übung in Suspense, ein schier endlos hinausgezögerter Orgasmus, der sich dann umso gewalttätiger entlädt. Hier fährt De Palma alles auf: schier endlose Kamerafahrten, durch die man unentrinnbar immer tiefer in das Geschehen auf der Leinwand hinein gesogen wird. De Palmas einzigartiges Spiel mit der Wahrnehmung: Die verhängnisvolle Fehlinterpretation einer Beobachtung durch einen weiteren Beobachter. Der Beobachter und damit der Zuschauer wird in CARRIE selbst zum Täter. Dann die beängstigende Ruhe vor dem Sturm, das Anhalten des Atems, unerträgliche Spannung in Slow-Motion. Schließlich die Katastrophe, der große Knall, das Chaos, dass sich in einem gewaltigen Split-Screen-Gewitter entlädt. Und am Ende als Sahnehäubchen der ebenso smarte, wie effektive Nachsatz. De Palma ist vielleicht nicht Gott, aber er kommt auf jeden Fall so ziemlich kurz danach.
Lege dich lieber mal nicht an, mit einem Mädchen das auch Telekinese kann!