THRILLER: USA, 1976
Regie: Brian De Palma
Darsteller: Cliff Robertson, Geneviève Bujold, John Lithgow, Silvia Kuumba Williams
Michael Courtland ist glücklich verheiratet mit seiner geliebten Elisabeth. Die gemeinsame Tochter Amy ist sein Ein und Alles. Außerdem ist er reich und wohnt in einem geräumigen noblen Haus. Das Leben ist schön.
Bis seine Frau und Tochter eines Abends entführt werden. Die Lösegelderpresser fordern 500.000 Dollar, wenn er seine Liebsten jemals lebend wiedersehen möchte. Wie so oft versaut die Polizei alles und Michael verliert beide.
16 Jahre später. Michael trifft in Florenz die Italienerin Sandra, die seiner verstorbenen Gattin Elisabeth frappierend ähnlich sieht und setzt alles daran, sie für sich zu gewinnen. Die um einiges jüngere Sandra lässt sich nach anfänglichem Zögern auf den etwas verschroben wirkenden reichen Mann ein. Seine Freunde warnen Michael vor einer überstürzten Hochzeit und haben Angst, dass er mit der Situation emotional überfordert ist. Irgendetwas scheint wirklich nicht mit ihm zu stimmen. Aber auch Sandra verhält sich zunehmend merkwürdig...
Brian de Palma schaffte es im Jahr 1976, gleich zwei ernsthafte Suspense-Filme abzuliefern. Die allseits bekannte und vielfach beachtete Stephen King-Verfilmung "Carrie" war einer davon. Carrie gilt heute unbestritten und völlig zu Recht als einer der Kultklassiker des Horrorgenres.
Der zweite, im selben Jahr entstandene Film, konnte nicht annähernd diesen Bekanntheitsgrad erreichen. Obsession, De Palmas Hommage an Hitchcocks "Vertigo", ist von der Erzählweise und den verwendeten Filmtechniken her betrachtet ein eher sanfter und leiser Film.
Einzig der opulente Soundtrack aus der Feder von Bernard Hermann (der postmortem 1977 dafür mit einem Oscar nominiert wurde) scheint mit allem Anderen in Kontrast zu stehen. Wem der Name des Komponisten bekannt vorkommt - ja, genau der Bernard Hermann, der für das geniale Psycho-Thema verantwortlich war und Musik für Filme wie Marnie, Vertigo und Citizen Kane schuf. Das in Kill Bill Vol. 1 verwendete "Twisted Nerve" (die Szene, in der Elle Driver als einäugige Krankenschwester verkleidet pfeifend durch die Krankenhausgänge stolziert), haben wir ebenfalls ihm zu verdanken.
Doch zurück zu Obsession. Die Kritiken waren bereits kurz nach dem Kinostart recht durchwachsen.
Der Film lieferte zwar ein passables Einspielergebnis. Und das, obwohl er von Columbia nicht so stark beworben wurde, wie De Palma es sich gewünscht hätte. Dennoch war er kein durchschlagender Erfolg und traf den Nerv des Publikums nicht im intendierten Ausmaß. Natürlich sahen fanatische Hitchcock-Verehrer die Vorlage des Meisters nicht gerne wiederverwertet - von diesem Gesichtspunkt aus mussten diese "Obsession" klar negativ bewerten. "Frechheit, traut sich da so ein dahergelaufener Jungregisseur mit italienischem Namen an den Stoff des Altmeisters heran!" hat sich vermutlich das Gros der eingefleischten Alfred-Fans gedacht.
Der etwas unbedarftere Teil des Publikums, der die Vorlage nicht kannte, hatte wohl etwas Mühe mit dem Drehbuch, da der Film seine Spannung allein über psychologische Elemente aufbaut. Wenn man nicht wüsste, dass der Film "Obsession" heißt, könnte man versucht sein, über weite Strecken zu denken, dass nichts (mehr) Spannendes passiert.
Für mich als bekennende Ästhetin, bei der schön arrangierte Bildkompositionen, durchdachte Kamerafahrten und außergewöhnliche Beleuchtung schon ausreichend sind, um mich in Verzückung zu versetzen, war es ein Leichtes, von Anfang an in die Geschichte einzutauchen.
Als Michael in Florenz auf Sandra trifft, die aussieht wie seine verstorbene Frau, gewinnt die Story zusätzlich an Tiefe und erweitert sich um eine psychologisch-philosophische Dimension. Verliebt man sich in einen Menschen oder mehr in das Abbild einer Person, das man sich selbst konstruiert? Suchen sich manche Menschen unbewusst immer wieder optisch ähnliche Partner, um eine verlorene Liebesbeziehung aufzuarbeiten? So quasi als zweite Chance? Werden nicht passende Charaktereigenschaften aufgrund selektiver Wahrnehmung ausgeblendet? Wie weit ist ein Mensch in der Lage, sich selbst zu täuschen, um jemanden lieben zu können?
Neben den Hauptdarstellern Cliff Robertson und Geneviève Bujold, die den Film tragen, besticht "Obsession" durch die Filmtechniken, die man bis auf den hier fehlenden Split-Screen in so gut wie jedem De Palma Werk wiedererkennt. Die langen Kamerafahrten ohne Schnitte, die traumähnliche verwaschene Optik und die Ausleuchtung einzelner Szenen, bei denen man das Gefühl hat, Maestro Mario Bava höchstpersönlich hätte dafür kurz auf dem Regiestuhl Platz genommen. Diffuses Licht, Überblendungen und Überbelichtung erzeugen eine Atmosphäre, die mit dem Überbau des Handlungsgerüsts Eins wird.
Langsam wird man in den Bann der Geschichte gezogen.
Am Anfang wähnt man sich noch in Sicherheit und geht davon aus, dass man es mit einer eher banalen und geradlinig erzählten Handlung zu tun hat. Und immer wieder ist man versucht, sich zu fragen: um welche Obsession geht es eigentlich? Und um wessen Obsession?
Einige geschickt ausgelegte "rote Heringe" tragen dazu bei, dass sich erst gegen Ende umfassend offenbart, weshalb der Film seinen Titel zu Recht trägt.
Es geht um Liebe, Rache, Eifersucht, Schuldgefühle und Geldgier. Um menschliche Abgründe in Extremform.
Obsession ist psychologisch sehr stark aufgebaut. Trauma, Retraumatisierung und Verlust wurden von De Palma ohne sprachliche Hilfsmittel detailliert skizziert. Selten sieht man so gekonnt in Bilder übersetzte intrapsychische Vorgänge.
Wollte man "Obsession" ein Etikett geben und wäre De Palma ein Römer und nicht (nur) ein Amerikaner mit italienischen Wurzeln, könnte man "Obsession" getrost als Giallo bezeichnen, da er viele wesentliche Elemente des italienischen Thrillers beinhaltet.
Manchmal frage ich mich, welches Zielpublikum filmtipps.at eigentlich hat. Sicherheitshalber sei erwähnt: wer auf Popcorn-Kino mit Actionszenen, lustigen "One-Linern", abwechslungsreichen bunten Bildern und coolen Helden steht, ist gut beraten, tunlichst die Finger von "Obsession" zu lassen.
Wen das Review dieses bald vierzig Jahre alten Films auf irgendeiner Ebene anspricht, sollte unbedingt einen Blick auf dieses unterschätzte Meisterwerk wagen.